Einige Erläuterungen und Hintergründe zu Gottlob Freges privaten Aufzeichnungen aus dem Jahr 1924, dem sogenannten „politischem Tagebuch“

Frege hat in einem Zeitraum von knapp 9 Wochen, vom 10. März 1924 bis zum 9. Mai 1924, private Aufzeichnungen gemacht. Sie wurden später als politisches Tagebuch bezeichnet.

Einleitend schreibt er: „Da mir vielleicht Zeit und Kraft zu ausführlichen Darlegungen fehlen werden, sollen hier wenigstens Einfälle verzeichnet werden, die vielleicht einer späteren Ausarbeitung wert sind.“ Zu einer nachfolgenden Ausarbeitung kam es jedoch nicht.

Inzwischen sind 100 Jahre vergangen.

In gedruckter Form liegen 1283 Zeilen vor. Frege beleuchtet vor allem politische, gesellschaftliche Aspekte seiner Zeit. Aber auch Ernst Abbe und theologische Themen finden seine Aufmerksamkeit.

Im Jahr 1924, ein Jahr vor seinem Tod, lebte Frege bereits in Bad Kleinen und stand damit auch nicht mehr im öffentlichen Leben. Er war inzwischen 75 Jahre alt. Damals gab es kein Radio, kein Fernsehen, keine sozialen Medien, kein Internet, keine digitale Welt. Kaum jemandem stand ein Telefon zur Verfügung. Informationen erfolgten über Zeitschriften, Zeitungen, Bücher, Briefe, Depeschen oder durch persönlichen Austausch.

Um Frege gerecht zu werden, muss man seine damalige Lebenssituation kennen. Frege beschäftigte in diesem Jahr 1924 immer noch die plötzliche deutsche Kapitulation 1918, die ihn wie viele völlig unvorbereitet getroffen hatte. Schließlich gab es damals keine Besetzung Deutschlands durch ausländische Truppen. Die Legende, dass die Juden und die Linken das Land verraten hatten, fand allgemeine Verbreitung. Diesen Teilen der Bevölkerung begegnete das Bürgertum schon lange mit Argwohn. Die Legende wurde scheinbar dadurch gestützt, dass das Kaiserreich unterging und die Sozialdemokraten in der neuen Republik die Führung übernahmen. Der Vertrag von Versailles belegte Deutschland mit hohen Reparationslasten und schränkte die Souveränität des Landes ein. Er schürte den Hass auf die Sieger weiter und fügte letztendlich der Weltwirtschaft schweren Schaden zu. Das alte Kaiserreich erschien nicht nur in Freges Umfeld als goldene Zeit, die junge Republik als Schande. Dieser Eindruck erwies sich als schwere Hypothek für eine demokratische Entwicklung. Linke und rechte politische Strömungen gingen aufeinander los. Das ließ Frege für die Zukunft nichts Gutes erwarten. Daher rührten auch seine politischen Einstellungen.

Die politischen Abhandlungen Freges sind heute über weite Strecken nicht akzeptabel, sie wirken auf uns befremdlich. Auf 36 Druckzeilen befasst Frege sich mit dem Judentum, dem Antisemitismus. Es bleibt aber auch festzuhalten, dass er sich öffentlich nicht antisemitisch geäußert hat.

Wie gelangte das „Tagebuch“ überhaupt an die Öffentlichkeit? Erst Anfang November 1938 sandte Freges Sohn Alfred eine von ihm angefertigte Maschinenabschrift an Professor Heinrich Scholz, Universität Münster, einem großen Frege-Verehrer, der sich verdienstvoll um dessen umfangreichen schriftlichen Nachlass bemühte. (Das handschriftliche Original scheint Scholz nicht erhalten zu haben.) Erst 70 Jahre später, also 1994, wurden die Tagebuch-Aufzeichnungen veröffentlicht und kommentiert. [1]

Entgegen anderslautenden Behauptungen war Frege kein Wegbereiter Hitlers. Einen Einfluss auf die nationalsozialistische Bewegung kann man ihm nicht zuschreiben, denn Frege starb bereits 1925 und war in jener Zeit in Deutschland nur in Fachkreisen bekannt. Es kann nur spekuliert werden, wie er die weitere Entwicklung bis 1945 beurteilt hätte. Kaum vorstellbar ist allerdings, dass er als christlich-humanistisch erzogener Anhänger des Kaisertums die faschistische Bewegung später begrüßt hätte.

Freges private politische Aufzeichnungen sind heute einbezogen in das Nachdenken über ihn, einem in seinem Werk unbegreiflichen Genie.

[1] Gabriel, G. und W. Kienzler: Gottlob Freges politisches Tagebuch – Mit Einleitung und Kommentar herausgegeben. Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 42, Nr. 6, 1994, S. 1057-1098.

Autoren

Edith Framm, Joachim Framm, Dieter Schott, Juni 2024